GEGEN DAS VERGESSEN ist das multimediale
Erinnerungsprojekt des deutsch-italienischen Fotografen und Filmemachers Luigi
Toscano. Seit 2014 trifft und porträtiert er dafür weltweit Überlebende der
NS-Verfolgung. Mehr als 400 dieser Begegnungen gab es bereits in Deutschland,
den USA, Österreich, der Ukraine, Russland, Israel, den Niederlanden und
Weißrussland. Und noch werden es mehr, doch die Jahre sind gezählt: In nicht
allzu ferner Zukunft wird es keine lebenden Zeitzeugen mehr geben.
„Wie
konnten Menschen anderen Menschen so viel Leid zufügen? Warum hat niemand etwas
dagegen getan? Wie können wir verhindern, dass so etwas je wieder geschieht?“
Lange bevor Luigi Toscano mit dem Fotografieren begann, haben ihn diese Fragen
nicht losgelassen. Im September 2014 bekam er dann endlich die Gelegenheit,
persönlich mit Überlebenden darüber sprechen: Fünf ehemalige KZ-Häftlinge und
Zwangsarbeiter aus Polen, die zu einer Gedenkveranstaltung in Toscanos
Heimatstadt Mannheim gekommen waren, erklärten sich bereit, GEGEN DAS VERGESSEN
zu unterstützen. Schon damals war klar: Das wird viel mehr als ein
kurzfristiges Projekt. Und es wird alles andere als einfach.
Viele, denen Luigi Toscano von seiner
Projektidee erzählte, reagierten mit Skepsis und Zurückhaltung. Unzählige
Versuche, über Verbände oder Vereine Kontakt mit Überlebenden aufzunehmen,
liefen ins Leere. Politische und finanzielle Unterstützung gab es anfangs kaum.
Einigen war das Thema zu heikel, andere erklärten, sie wollen lieber in die
Zukunft investieren und das Vergangene ruhen lassen. Immer wieder kam Luigi
Toscano an seine Grenzen, finanziell, physisch, aber auch emotional. Mehr als
einmal stand das Projekt vor dem Aus, weil einfach niemand wusste, wie es
weitergehen soll. Irgendwie ging es dann aber immer weiter, denn Aufgeben war
trotz aller Schwierigkeiten nie eine Option. Die Menschen, denen Luigi Toscano
bereits begegnet war, haben ihm zu viel anvertraut. Und sie haben ihn dazu
ermutigt, weiterzumachen.
Hinter
jedem Porträt steht eine ganz persönliche Geschichte. Jede von ihnen ist
einzigartig, aber jede wurde auch für die vielen anderen erzählt, die nicht
mehr gehört werden können. Es sind Geschichten von Kindern, deren Familien
verschleppt und ermordet wurden. Geschichten von Jugendlichen, die gedemütigt
und misshandelt wurden. Erinnerungen an Leid, Hunger und Kälte; an Angst,
Verrat und Tod. Manchmal erzählen die Geschichten auch von Hoffnung,
Freundschaft und Menschlichkeit. Bei fast jedem Gespräch wurde deutlich: Es
begann nicht plötzlich mit Vertreibung und Völkermord. Es war ein schleichender
Prozess, der die Mauern in den Köpfen immer höher baute. Die Mauern, die „uns“
von „den Anderen“ trennten. Die Mauern, die „die Anderen“ immer weiter
herabwürdigten und entfremdeten, bis sie nicht mehr wie Menschen behandelt
wurden. Diese „Anderen“ sind die Gesichter des Projekts GEGEN DAS VERGESSEN.
Fast
75 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager ist die Distanz zu den
Verbrechen im Nationalsozialismus weiter gewachsen. „Was habe ich damit zu tun?
Ich war damals ja noch nicht mal geboren! Warum müssen wir immer wieder in die
Vergangenheit schauen? Irgendwann ist doch mal gut!“ Die KZ-Überlebende und
Protagonistin Susan Cernyak-Spatz brachte die Bedeutung einer lebendigen
Erinnerungskultur schon bei der ersten Begegnung mit Luigi Toscano auf den
Punkt: „Wenn wir die Vergangenheit vergessen, sind wir verdammt, sie zu
wiederholen.“ Dieses Zitat von George Santayana wurde zu einem der Leitgedanken
des Projekts. Die Vergangenheit lässt sich nicht von der Gegenwart und Zukunft
trennen, denn der Umgang mit der Geschichte prägt unser Denken und Handeln.
Der Kampf GEGEN DAS VERGESSEN ist seit
Projektbeginn 2014 noch dringlicher geworden. Weltweit feiern Rechtspopulisten
Wahlerfolge und überschreiten nicht nur verbal immer neue Grenzen. Rassistische
und antisemitistische Feindbilder werden konstruiert und offen verbreitet. 2017
zog eine Partei in den Deutschen Bundestag ein, die mit Nazi-Rhetorik Ängste
schürt und mit Fremdenfeindlichkeit Wähler gewinnt. Eine Partei, die
Rechtsradikale und Holocaustleugner in ihren Reihen vereint. Jüdische Menschen
und Einrichtungen wurden Opfer antisemitischer Anschläge. Und Tausende Frauen,
Männer und Kinder sind bereits auf der Flucht gestorben. Ihr Tod wird in vielen
Kommentarspalten mit einem Achselzucken abgetan. „Wir können ja auch nicht alle
aufnehmen.“ Sie sind „die Anderen“ von
heute, die nicht dazugehören sollen.
Luigi Toscano kämpft mit GEGEN DAS VERGESSEN
gegen jede Form von Ausgrenzung und für Offenheit, Toleranz und Demokratie. Er
gibt der Erinnerungskultur mit seinem Projekt ein menschliches und emotionales
Gesicht. Dadurch überwindet er die historische Distanz zu den NS-Verbrechen und
zeigt: Damals wie heute gibt es viel mehr Gemeinsamkeiten, die uns verbinden,
als Unterschiede, die uns trennen.
Seine überlebensgroßen Porträts präsentiert
Luigi Toscano an zentralen Orten, die für alle zugänglich sind – Parks, Plätze
oder Häuserfassaden. Auf diese Weise finden sie einen direkten Zugang in den
Alltag und das Bewusstsein der Menschen – unabhängig von Herkunft, Alter oder
Bildung. Diesem demokratischen Anspruch bleibt GEGEN DAS VERGESSEN bereits seit
vielen Jahren treu. Im Hinblick auf konkrete Formen und Konzepte dagegen ist
das Projekt offen für neue Impulse und Kooperationen. Ein Schwerpunkt ist die
Zusammenarbeit mit Schulen, Vereinen und Pädagogen. Dadurch haben Jugendliche
die Möglichkeit, ihre Ideen einzubringen und die Art und Weise mitzugestalten,
wie das Projekt seine Botschaft vermittelt.
Mehr als eine Million Besucher weltweit haben die Fotoinstallation GEGEN DAS VERGESSEN bereits persönlich erlebt. Erstmals wurde die Fotoinstallation 2015 in Luigi Toscanos Heimatstadt Mannheim gezeigt. 2016 war sie zum Staatsakt des Gedenkens an die Massaker von Babyn Jar in Kiew eingeladen. Es folgten drei weitere Stationen in der Ukraine und zwei in Berlin. 2018 war GEGEN DAS VERGESSEN zum Internationalen Holocaust-Gedenktag bei den Vereinten Nationen in New York City zu Gast, später in Washington, D.C. und Boston. 2019 reiste das Projekt nach San Francisco. Mit der Eröffnung in Wien und Mainz war die Installation erstmals in drei Städten gleichzeitig zu sehen. Es folgten Stationen in Kansas City und Pittsburgh, bei den Vereinten Nationen in Genf und in Dortmund. Am 27. Januar, dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, wurde die Ausstellung am UNSECO-Hauptquartier in Paris gezeigt. Zuletzt war sie im Mai 2021 in Heidelberg zu Gast.
Ein bedeutendes Teilprojekt von GEGEN DAS VERGESSEN ist der gleichnamige Dokumentarfilm. Er feierte im Mai 2019 Premiere beim Seattle International Film Festival. Die Deutschlandpremiere fand am 4. November 2019 in Berlin statt. 2020 wurde GEGEN DAS VERGESSEN für den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis 2020 nominiert. Grundlage für den Film waren Mitschnitte der ersten Reisen und Begegnungen im Rahmen des Projekts.
Auch nach mehr als 70 Jahren war es für die
meisten Überlebenden unbeschreiblich schmerzlich, über ihre Erlebnisse während
der NS-Verfolgung zu sprechen. Sie haben es trotzdem getan. Nicht um zu klagen
oder anzuklagen, sondern weil sie davon überzeugt sind, dass niemand mehr erleben
darf, was sie erlebt mussten: „Wenn nicht wir, wer dann?“ Luigi Toscano und sein Team werden die
Erinnerungen lebendig halten und in die Welt tragen – auch nach ihrem Tod. Und
Luigi und sein Team haben versprochen, sich mit allen zur Verfügung stehenden
Mitteln gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus zu wehren. Nie
wieder dürfen sich die unfassbaren Verbrechen des Nationalsozialismus
wiederholen! Unsere Demokratie wird gewinnen.